Version 1.0, 08.06.2015
Es ist offensichtlich, dass das politische Einflusspotential der Snowden-Enthüllungen und ähnlicher Probleme (z.B. die NSA-Selektoren für den BND) keine Relevanz besitzt. Warum ist das so? Mögliche Gründe:
mangelndes technisches Verständnis des Problems
Wer wenig darüber weiß, wie das Internet und seine Kommunikationsdienste funktionieren, regt sich vermutlich weniger auf, weil die mediale Ansage Alles wird irgendwie abgehört
zu abstrakt ist.
mangelnde politische Sensibilisierung
Wer nicht versteht, warum massive Eingriffe ins Fernmeldegeheimnis die Demokratie bedrohen, hat wenig Grund, sich (über seine persönliche Betroffenheit hinaus) aufzuregen.
mangelndes technisches Verständnis der Lösungen
Wer nicht versteht, was technisch gemacht werden müsste, um diesen Bedrohungen zu begegnen, kann destruktiv schimpfen (was politisch wenig gefährlich ist), wird sich aber damit schwertun, konkrete (brauchbare) Forderungen zu erheben und nachdrücklich zu verfolgen.
mangelnde politische Alternativen
Politischer Druck ist immer die Drohung an der Wahlurne. Dafür muss aber einerseits eine überzeugende politische Alternative existieren (nur rumzunölen, die Kanzlerin könne nichts, macht einen bei den Wählern der Kanzlerin nicht unbedingt attraktiver), und andererseits muss das Thema einem wichtig genug sein. Und das ist es bei kaum jemandem. Und diejenigen, denen es wichtig genug ist, wählen überwiegend wahrscheinlich sowieso nicht die große Koalition.
Dass die Politik, insbesondere die Opposition, sich dadurch lächerlich macht, dass sie die nötige Technik nicht mal im eigenen Kreis einführt, macht die ganze Sache nicht besser.
Die Empörung in der Bevölkerung war jedenfalls auch zu ihrem Maximum nicht stark genug (oder nicht zielgerichtet genug), um schnell etwas zu bewirken. Und da – wie bei jedem Thema – die Aufregung im Laufe der Zeit nachlässt, kann die Politik das bisschen Empörung gut aussitzen, zumal sehr wenige sehr laut sind und die meisten gar nichts dazu sagen.
Wie stark die politische Mobilisierbarkeit durch ein Thema nachlässt, hat sicher auch viel damit zu tun, wie präsent es im Alltag ist. Beispielhaft beim Umweltschutz, dem Atomausstieg und Bioessen – als erfolgreiche politische Umwälzungen – konnte jeder leicht was tun: Man konnte ein Auto mit Katalysator kaufen, bevor er Pflicht wurde. Man kann ein verbrauchsarmes Auto kaufen. Man kann "atomfreien Strom" kaufen, man konnte auch vor der Einführung des Siegels Bioessen kaufen.
Durch diese Aktivitäten / Entscheidungen wird das Thema dauerhaft im Alltag der Interessierten verankert; außerdem wird ein Markt geschaffen, von wo aus es nur ein kleiner Schritt hin zu entsprechender Lobbyarbeit ist.
Es heißt immer, man könne soziale Probleme nicht durch Technik lösen. Aber auch wenn man mal annimmt, dass das stimme, bedeutet das nicht, dass Technik kein bedeutender, vielleicht sogar ein unverzichtbarer Schritt hin zur Lösung eines sozialen Problems sein kann.
Die oben genannten Probleme – die natürlich nicht schon alle sein müssen, die für dieses Problem relevant sind – treten nur oder jedenfalls ganz überwiegend bei Leuten auf, die die entsprechende Technik nicht verwenden. Das ist erst mal wenig überraschend, weil die Stärker-Interessierten sowohl eine höhere Affinität zu der Technik haben als auch politisch besser mobilisierbar sind. Die spannende Frage ist, wie sich die Nutzung der Technik auf die politische Befindlichkeit von Leuten auswirkt, die sie heute noch nicht nutzen.
Natürlich kann man nicht jeden dazu bringen, die Technik ernsthaft zu nutzen; das ist die erste Hürde. Aber die Wahrscheinlichkeit erscheint sehr hoch, dass eine ernsthafte Nutzung als politischer Katalysator wirkt: Jemand, der in einem Moment der politischen Empörung beginnt, Kryptografie o.Ä. zu nutzen,
verankert das Thema in seinem Alltag und verlängert dadurch die Dauer seiner starken Mobilisierbarkeit
ist quasi automatisch für die politische Relevanz sensibilisiert, weil er plötzlich etwas hat, das man ihm "wegnehmen" will: seine Privatsphäre
versteht die Bedrohungen und Gegenmaßnahmen besser, so dass er seine Empörung konstruktiv kanalisieren kann
nimmt es den Verantwortlichen (v.a. in der Politik, aber auch in der Wirtschaft und anderswo) übel, wenn sie die Technik nicht auch verwenden. Ein Bundestag voller Kryptografie-Nutzer wird sich bei dem Thema anders verhalten als einer mit Abgeordneten, denen man kaum zutraut, dass sie ohne fremde Hilfe einen Computer einschalten können
erhöht schon ganz passiv, durch seine Nutzung der Technik, die Wahrscheinlichkeit, dass weitere Leute sich die Technik zulegen; dieser Effekt lässt sich mit minimalem Aufwand erheblich steigern
Aus diesem Grund ist es sinnvoll, sich auf die Generierung neuer Nutzer der Technik zu konzentrieren, weil eine Vergrößerung der Nutzerschaft das politische Potential automatisch und dauerhaft erhöht, wogegen das nicht mit Technik unterfütterte politische Potential sich im Laufe der Zeit verflüchtigt.
Der Technikfokus ist schon deshalb alternativlos, weil die Zeit seit Snowden in maximaler Deutlichkeit gezeigt hat, dass politische Aktivitäten nichts bringen. Egal, was noch passiert / bekannt wird: Mehr Empörung als in den drei Monaten nach Snowden wird es nicht geben. Da aber schon das nichts bewirkt hat und es nach zwei Jahren in der Politik noch nicht einmal brauchbare Vorschläge gibt, bei denen "nur" die Durchsetzung scheitert, ist das Vertrauen in zukünftige rein politische Effekte bestenfalls naiv.
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